Monica Bacelli; Cecilia Bartoli; Natale de Carolis; John Del Carlo; Alessandro Corbelli; Amelia Felle; Robert Gambill; Janice Hall; David Kuebler; Susan Patterson; Alberto Rinaldi; Luciana Serra
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
Gianluigi Gelmetti, Gabriele Ferro
These early operas already contain all the elements with which Rossini later took the music world by storm. The witty and ironical realization of these musical comedies was met with enthusiastic approval and makes the recordings milestones in the…

Gespräch über Rossini mit Prof. Michael Hampe

 

Aus: Michael Hampe – Über Theater: Reden und Schriften, Wienand, 2015. (978-3868322590)

Herr Hampe. Sie haben die verschiedensten Opern Rossinis inszeniert. Daher an Sie die Frage: Gibt es aktuell eine Rossini-Renaissance?

Die gibt es zweifellos. Sie ist ausgelöst worden vor allem durch die kritische Neuausgabe aller Werke Rossinis der Fondazione Rossini in Pesaro, Rossinis Geburtsstadt. Diese Ausgabe ist ungeheuer verdienstvoll. Sie ist sehr arbeitsaufwändig, es kommen pro Jahr ein bis zwei Bände heraus. Die Arbeit an dieser kritischen Neuausgabe wird sich sicher noch einige Zeit hinziehen. Aber es ist ganz ohne Zweifel das Verdienst der Fondazione Rossini und dieser kritischen Neuausgabe, dass in aller Welt eine Neubewertung Rossinis stattfindet. Es gibt wohl kaum einen Komponisten in der gesamten Musikgeschichte, dem so viel angetan wurde wie Rossini. Wobei er manchmal selbst mit Schuld war, denn eine Primadonna brauchte ihm nur schöne Augen zu machen, und schon hat er bereitwillig für sie eine neue Kadenz oder eine andere Arie geschrieben, die ihr gut in der Stimme lag. Dadurch hat er selbst für die kritische Sichtung der Opern viel Verwirrung gestiftet. Dennoch, ich wiederhole, kaum einem anderen Komponisten ist so viel angetan worden wie Rossini. Es gibt buchstäblich keine  Sünde wider Geist und Buchstabe der Rossini‘schen Kompositionen, die in den letzten 200 Jahren nicht begangen worden ist. Da wurden aus Mezzopartien Sopranpartien gemacht. Da wurden völlig sinnenstellende Striche zur heiligen Tradition erklärt; da wurden Stimmen vertauscht; da wurden Stücke aus der einen in die andere Oper hineingenommen. Es wurden die Instrumentierungen verändert, ganz zu schweigen von den bei Rossini oft durchaus präzisen dynamischen und sonstigen musikalischen Angaben. Kurzum, was man tun kann, um Werke zu entstellen, das hat man Rossini angetan. Insofern nochmals, die kritische Neuedition seiner Werke ist ungeheuer verdienstvoll.

Stendhal beruft sich darauf, dass die Sänger in der Musik Rossinis ungeahnte Freiheiten hatten. Gibt es das auch noch heute?

Da liegt ein Missverständnis: Die Sänger hatten natürlich bei der Gestaltung einer Kadenz, bei der Gestaltung einer Wiederholung in den Da-capo-Arien – und diese Form verwendete Rossini ja noch oft – viel Freiheit in der Ausgestaltung. Aber natürlich gab es dafür Regeln, wie das zu geschehen hatte. Und die Sänger bewegten sich im Rahmen dieser Regeln. Diese Regeln sind heute vergessen, sodass jeder glaubt, er könne nun machen, was ihm gerade in den Sinn kommt. Oft ist das dann schlichtweg falsch, ganz abgesehen davon, dass es häufig geschmacklos ist.

Die Neuedition der Werke Rossinis hat damit aufgeräumt und dazu beigetragen, dass Rossini heute in aller Welt ganz anders als noch vor 30 oder 50 Jahren beurteilt wird. Sie hat ermöglicht, dass auch seine weniger bekannten Werke zunehmend aufgeführt werden. Sie hat vor allem bewirkt, dass es heute schon eine ganze Generation junger Spezialisten für Rossini unter den Sängern gibt, wie auch unter den Dirigenten. Kurzum, man hat begriffen, dass Rossini einer der ganz großen Opernkomponisten ist. Man hat begriffen, dass er wie wenige sein musikalisches und theatralisches Handwerk beherrscht hat. Und vieles, was man früher kompositorisch als primitiv abgewertet hat, sieht man heute in ganz anderem Licht. Man begreift, dass Einfachheit in der Musik in Verbindung mit einer entsprechenden szenischen Situation von viel größerer Wirkung sein kann als ein voll aufspielendes Orchester. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem Barbier von Sevilla: Da ist eine ganz einfache Gitarrenserenade gleich am Anfang des Stückes, und es ist wirklich nichts weiter auf der Bühne als ein leerer Platz, Sonne, eine Gitarre und die Stimme einer Frau, die man nicht sieht, weil sie hinter einem Fenster im Haus eingesperrt ist. Wenn Sie die Komposition nur als Musik werten, sind es ein paar Zupftöne der Gitarre und eine nette Melodie. Rein musikalisch genommen kann das jeder Konservatoriumsschüler. Aber in Verbindung mit der Situation, in Verbindung mit den Charakteren auf der Bühne bewirkt diese ganz einfache musikalische Form eine wunderbare Atmosphäre, wenn es richtig inszeniert ist. Das als Illustration, wenn ich meine, Rossini beherrschte wie kaum ein anderer nicht nur sein musikalisches, sondern eben auch sein szenisches Handwerk.
Man sagt auch oft, Rossini sei ein kalter Routinier gewesen, er habe viel effektvolle Musik komponiert, die abschnurrt, die vielleicht amüsiert, die aber über wenig Substanz verfüge.
                Sicherlich hat Rossini oft schon wegen des Zeitdrucks, unter dem er gezwungen war, zu komponieren, nach einem gewissen Schema komponiert. Aber Rossini hatte sehr viel Herz; er hatte nur auch ebenso viel kritischen Verstand, um dieses Herz nicht allzu offen vor sich herzutragen. Immer aber gibt es Momente in seinen Opern, in denen er plötzlich das Publikum und auch seine lnterpreten einen tiefen Blick in sein heißes Herz tun lässt. Meistens verfügt er dann über genügend Ironie, um die Klappe ganz schnell wieder zuzumachen und so zu tun, als sei gar nichts gewesen. Man glaube doch nicht, dass ein Komponist zwei Jahrhunderte überlebt, wenn er nicht über sehr viel Herz verfügt, über eine große emotionelle Spannweite.
Letztlich bin ich sogar der Überzeugung, dass emotionelle Spannweite, Talent und Können bei einem Komponisten vorausgesetzt, das entscheidende Kriterium für sein Überdauern ist. Und das ist bei Rossini ganz fraglos der Fall.

Es gibt einen bestimmten Kanon von Opern Rossinis, die gehören zum Repertoire. Der Barbier gehört dazu, die Cenerentola. Sie haben aber auch einen Einakterzyklus aus der Frühzeit inszeniert: La cambiale di matrimonio, II Signor Bruschino, La scala di seta und l'occasione fa il ladro. Wie reagiert das Publikum auf diese Werke?

Das Publikum reagiert auf diese ihm bis dahin unbekannten Opern glänzend. Das kann ich aus meinen Erfahrungen mit Inszenierungen an vielen Orten sagen. Es ist richtig, dass noch vor einer Generation nur relativ wenige Werke von Rossini im Repertoire waren. Heute gibt es aber ein sehr breites Spektrum Rossini‘scher Werke, und zwar keineswegs nur die komischen Opern, die lange Ze.it als die bekanntesten galten. Man ist sich bewusst geworden, dass auch Rossinis ernste Opern bedeutende Kunstwerke sind. Ein Werk wie Maometto II, das ich in Pesaro inszenieren konnte, gehört für mich zu den ganz großen Opern: ein starkes Libretto, vier sehr schwer zu singende dankbarste Partien in hochemotionalen Situationen. Die Wirkung ist überwältigend.
Oder ein Werk wie Die diebische Elster, das ich mir zu einem besonderen Anliegen gemacht habe.  Eine semiseria, eine realistische Oper, die eigentlich eine tragische Handlung hat mit glücklicherweise gerade noch gutem Ausgang. lch habe sie in vielen europäischen Opernhäusern gemacht. Und immer war das Ergebnis gleich: jede einzelne Aufführung ein hochemotionales Volksfest. Gerade diese Art Rossini‘scher Opern, ich würde dazu auch den Guglielmo Tell zählen, seine letzte große Oper, findet heute ganz ungewöhnlichen Anklang beim Publikum.
Durch die kritische Neuausgabe ist endlich das ganze Rossini’sche Werk zugänglich, und viele Theater machen davon auch regen Gebrauch.

Welche Wege wird diese Neubewertung gehen? Wird Rossini der Meister des komischen Fachs bleiben, oder wird sich Ihre Einschätzung Bahn brechen, dass er durchaus ernstzunehmende, tragische große Opern komponiert hat?

Die Antwort habe ich eben schon versucht zu geben. Man ist sich heute bewusst geworden, dass mindestens die Hälfte seines Werkes der ernsten Opernform gewidmet ist, der Opera seria. Und diese Opern werden heute in aller Welt gespielt, sodass Rossini den ihm gemäßen Platz unter den großen Theaterkomponisten einnimmt. Man könnte fragen, wo die Wirkung Rossinis auf ein heutiges Publikum liegt. Es ist ja gar nicht so auf der Hand liegend, dass die Menschen zu diesem Komponisten in die Opernhäuser strömen, aber das tun sie, und zwar weltweit, überall.
Erstens hat er, wie ich schon versuchte zu sagen, viel mehr Substanz, menschliche, dramatische, theatralische Substanz, als man bisher glaubte. Und zweitens scheint man heute besser zu verstehen, dass die Eleganz seiner Form ja nur Ausdruck ist der Eleganz seines Denkens, der Eleganz seines Fühlens. Und das ist etwas, was viele anzusprechen scheint. Um noch ein Beispiel zu geben, was ich  meine mit menschlicher und dramatischer Substanz: Nehmen Sie ein Stück wie sein bekanntestes Werk, den Barbier von Sevilla. Das wurde immer als komische Oper gegeben, und man versuchte, auf der Bühne sehr viel sogenannte Lustigkeit, sehr viel Turbulenz zu bieten. Das hat mich persönlich immer gestört. Der Barbier ist schon seiner Quellenlage nach ein ganz ernsthaftes, sozialkritisches Stück von Beaumarchais. Und genau diese Seite hat Rossini glänzend in Musik gesetzt. Rossini hat dabei noch ein weiteres Element hinzugefügt, nämlich Ironie. Ironie bedeutet Distanzierung gegenüber Handlung und Personen. Rossini hat sehr genau die Figuren Beaumarchais‘ in musikalisch empfindende und sich ausdrückende Menschen umgewandelt. Und das sind allesamt Figuren von durchaus zweifelhaftem Charakter. Die Quintessenz des Barbier ist ein Satz ganz am Schluss, der lautet: „Die Schurken haben eben Glück auf dieser Welt.“ Bezeichnenderweise wird dieser Satz immer gestrichen. Und es ist ganz erhellend, dass unsere Kölner Aufführung, die zuerst im Rahmen der Edinburgher Festspiele herauskam und  die in der äußeren Form keineswegs mit allen Traditionen brach, als Sensation empfunden wurde. Als Sensation deshalb, weil sie den Barbier ganz ernst und wörtlich genommen hat.
Das heißt nicht, dass das nicht komisch ist. Nur die Komik muss im Zuschauerraum stattfinden, nicht auf der Bühne. Auf der Bühne muss man versuchen. die Figuren sich ernst nehmen zu lassen. Und aus dem Zusammenprall von Interessen entsteht dann, je nach Blickwinkel, Komik oder Tragik, der Blickwinkel aber ist der des Publikums.

Ist es vielleicht nicht auch eine gewisse Modernität der Themen in Rossinis Opern, die im Moment diese Renaissance begründet? Ich denke, Sie haben den Barbier inszeniert, wenn ich es überspitzt formuliere, als Manager, als jemand, der keine Termine mehr frei hat, der das Spiel lenkt. Ist das nicht eine durchaus moderne Sicht?

Die Figuren sind in der Tat erstaunlich modern. lch finde lhre Bemerkung richtig. Und es ist oft bei Rossini der Fall, dass viele seiner Figuren eine materialistische, häufig sogar zynische und fast immer kalte Grundhaltung haben. Man könnte sagen, alle folgen rücksichtslos ihren Interessen. Bei Rossini ist in dieser Hinsicht viel mehr Kälte als etwa bei Mozart. Diese Art der Menschendarstellung scheint in der Tat der Sichtweise unserer Zeit und unserer Zeitgenossen sehr entgegenzukommen.
lch möchte eine Sache noch sagen. Gerade die komischen Opern Rossinis wurden oft als Repertoirefüller „hingeschmissen“, wie der saloppe Ausdruck im Theater lautet. Auch das war eine schlampige Tradition. Nichts ist natürlich falscher. Rossini ist, rein handwerklich gesprochen, sehr schwer aufzuführen und zu exekutieren. Für Rossini braucht man Sänger ebenso glänzende Schauspieler sind, die ihr Handwerk, ihre Technik, und zwar sowohl Gesangstechnik als auch Darstellungstechnik, perfekt beherrschen. Nur dann funktioniert er. Bei anderen Komponisten laufen gewisse Dinge auch mal von allein. Das trifft sogar auf Mozart zu. Nicht dass Mozart leichter wäre, aber in manchen Bereichen ergeben sich die Wirkungen bei ihm mehr von selbst, sodass man nicht viel machen muss. Bei Rossini müssen Sie immer das genaueste, kalkulierteste Handwerk einsetzen. Nur wenn Sie das beherrschen, musikalisch wie szenisch, funktioniert Rossini.

Gilt das auch für die ernste Oper: für die großen Opern wie Guglielmo Tell und Tancredi?

Ja, das gilt auch für die ernste Oper, die in den gesanglichen Anforderungen sogar häufig noch schwieriger ist, manchmal geradezu mörderisch. Sie müssen bedenken, dass Rossini für die damals besten Sänger der Welt komponiert und ihnen die Partien auf den Leib geschrieben hat. Insofern ist auch der Schwierigkeitsgrad der Ausführung heute ungewöhnlich hoch.